Prolog 00

Es war nicht da. Es war einfach nicht da. So sehr sie es auch suchte, die ohnehin verängstigten Augen aufriss, jenes Licht, zuständig dafür die Dunkelheit zu zerfetzen, war nicht vorzufinden. Die Welt war schwarz, so düster wie nie zuvor und erneut kam ein Gefühl in ihr hoch, welches eigentlich schon seit damals, in die tiefsten Ecken ihrer Erinnerungen zurück verschoben wurde und genauso ungreifbar und leicht erschien wie der kurze Gedankenstrom eines Kindes, welches sich an einen belanglosen Tag auf dem Spielplatz erinnerte. Doch nichts von alldem hier war belanglos. Jenes erneut empfundene Gefühl der Todesangst, durchbohrte ihren zierlichen Körper wie ein Holzpflock den eines Vampires und drückte sich gewaltsam in ihren Kopf, als wolle es genau jetzt und hier beachtet werden, keine Chance zur Vertreibung durch die Flucht an einen sicheren Ort, natürlich nur im Kopf beständig. Hier gab es keinen sicheren Ort, es war kalt, dunkel und realer als je etwas zuvor. Und da war sie wieder, die vermummte Gestalt, welche sich langsam in ihr Sichtfeld drückte, finsterer erscheinend, als das gesamte Umfeld und jedes dunkle Gefühl zusammen. Das Gesicht der Kreatur war nicht zu erkennen und doch konnte sie wahrnehmen, wie sich ein breites, sadistisches Lächeln darauf breit machte, verstärkt durch ein Kichern, welches an Bösartigkeit kaum zu übertreffen war. Doch erst als es die Hände erhob und sich etwas langes, bedrohlich scharfes darin zu erkennen gab, war es als würde man sie durch einen groben Wurf in ein Becken bestehend aus Panik, Wut und Hoffnungslosigkeit werfen, in welchem das Opfer drohte zu ertrinken. Die Kreatur jedoch, schien von ihrem zappeln, den Tränen und den in Angesicht des Todes furchtsam aufgerissenen Augen nur noch mehr angetan und seine unmenschlich lange, mit Krallen bestückte Hand, strich ihr über die durch Tränen befeuchtete Wange. Kein Ton kam hinter den fest verschlossenen Lippen heraus, als wolle sie sich wehren, der Kreatur gegenüber nachzugeben und ein in dieser Situation befremdliches Gefühl des Triumpfes machte sich neben der Todesangst breit, als sie bemerkte wie jene Stille ihrerseits der Kreatur so gar nicht zu gefallen schien. Es wollte bestätigt werden, wollte sich im schreien und betteln suhlen. Doch als wolle die herrschende Dunkelheit diese Wendung in ihrem Inneren nicht wahrhaben, wurde das Gefühl des Triumphes sogleich von der Angst überwältigt und verdrängt, als die scharfe Klinge blitzschnell herab sank, sich über die zarte Haut zog und diese aufriss, tief und absichtlich schmerzend. Die ersten Bluttropfen rollten ihren Arm herunter und sammelten sich auf dem kühlen Untergrund, woraus bald schon eine Lache werden würde. Die Kreatur war erfahren und wartete absichtlich nach jedem Schnitt, anscheinend damit sich der Schmerz voll und ganz ausbreiten konnte. Als ob es die Sekunden zählen würde, setzte es die Klinge genau dann wieder an, als das Brennen langsam nachzulassen schien. Immer und immer wieder. Ein Schnitt, tropfendes Blut, kurze Zeit Ruhe, wieder ein Schnitt. Daraus entwickelte sich ein Ablauf und je größer die Schmerzen wurden, umso mehr schien sie selbst den Bezug zur wach rüttelnden Realität zu verlieren, verfiel kurzzeitig sogar dem Glauben, es würde nie aufhören. Doch was danach kam, war noch viel schmerzhafter und beschämender, verdrängte die Schnitte mit Leichtigkeit von der Bühne und trieb das Opfer dazu an, erstmals seit Beginn der Tortur ihren Mund zu öffnen. Auf das gedämpfte „Ich bring dich um“ konnte jene Kreatur scheinbar nur mit lautem Lachen antworten und dann hob es erneut bedrohlich die Hand.

Augenblicklich fuhr die junge Frau aus dem Bett hoch, als das laute, nervige und doch in die Realität zurück reißende Klingeln die Stille in ihrer Wohnung verdrängte. Grummelnd rieb sich Raven Bennett mit der Hand übers Gesicht und warf sogleich einen Blick auf das auf dem hölzernen Regal liegende Handy, nur um kurz darauf festzustellen, dass sie gerade einmal 2 Stunden geschlafen hatte. Dem anfänglich als nervig angesehenen Klingeln, brachte der nicht ganz so abgestumpfte Teil ihres Inneren sogleich ein Gefühl der Dankbarkeit entgegen, sie noch vor dem „Moment“ in jenem sich immer wiederholenden Alptraum, welcher mit seiner Häufigkeit schon fast lächerlich war, geweckt zu haben, auch wenn sich als fragwürdig erwies, ob ihr Kopf sie nicht schon vorher heraus gerissen hätte. Die Psychotherapeutin war der Meinung, es sei etwas Gutes, wenn die Psyche versuchte einen selbst von einer Konfrontation mit dem Trauma abzuhalten, doch Raven wollte jene Frau, welche äußerlich genauso gut als Anwältin hätte auftreten können, zu gerne sehen, wenn sie ihren Schönheitsschlaf nicht in Ruhe halten könnte und die verlockende Wahl besaß zwischen höchstens 4 Stunden Schlaf in Kombination mit ständigen Unterbrechungen und Alpträumen oder dem langfristigen Durchmachen der Nächte. Anfangs hatte sie immer wieder nachgesehen ob die Narben tatsächlich noch da waren und sie sich nur in einer langen, dunklen Wahnvorstellung befunden hatte, doch mit der Zeit bemerkte die Schülerin die Lächerlichkeit und Nutzlosigkeit dieses Vorhabens, wusste sie doch ganz genau, dass es sich bei alldem nicht um Einbildung handelte und die Narben nach keiner Nacht einfach verschwinden würden. Aus dem Bett gestiegen, lief sie sogleich zur Sprechanlage und nahm, wenn auch etwas wiederwillig, den Hörer ab. „Ja Hallo“ entkam es ihr mit rauer Stimme, woraufhin nur die professionelle und knappe Antwort eines Postboten folgte. Es war als baute sich mit einem Mal ein übermäßig großer Druck in ihrem Inneren ab. Sie ließ ihn durch die Betätigung des Knopfes an der Sprechanlage hinein, öffnete jedoch vorerst nicht und klebte förmlich am Türspion, durch welchen sie plötzliche Beleuchtung des Hausflures wahrnehmen konnte, ehe sich eine scheinbar tatsächlich als Postbote entpuppende Gestalt der Tür nährte, die kurz darauf langsam geöffnet wurde. Vorerst nur durch den Spalt, warf sie einen Blick auf ihr Paket, an welchem sich jedoch klar das erwartete Logo befand, was sie dazu veranlasste es entgegen zu nehmen und dem misstrauisch beäugten Mann seine gewünschte Unterschrift zu geben. Der etwas perplex dreinschauende Kerl verschwand ebenso schnell wie er gekommen war und das Paket wurde unachtsam in den Flur geworfen. Seufzend sackte sie daneben zusammen, strich mit der Handfläche abwesend über das Paket und erinnerte sich sehnsüchtig an die Zeit zurück, in welcher sie mit Selbstbewusstsein und ohne zögern dem Postboten die Tür öffnete und sich gegebenenfalls noch über die frühe Uhrzeit seiner Ankunft beschwerte, nur um belustigt und in vollen Zügen seine Entschuldigungen aufzunehmen. Anfangs dachte sie es würde besser werden, doch nein, es wurde immer schlimmer und nun war es schon so weit, dass Raven die Tür kaum aufbekam, vom heraus treten ganz abgesehen. Und wieder hallten die in aufgesetzter Höflichkeit verpackten Worte der Psychotherapeutin, mit ihrem schrecklich strengen, blonden Dutt, der Brille, welche die unwissende Dame deutlich älter erscheinen ließ und jenem bemitleidenden Lächeln, welches von ihr so verabscheut wurde, im Kopf der jungen Frau.
„Du musst….“