01 - Krächzen der Krähen
Es war ein faszinierender Anblick, welcher fast eine Art hypnotische Wirkung auf sie ausübte. Wie langsam die einzelnen Schneeflocken vom Himmel fielen, sich auf der Fensterscheibe des Autos niederließen und sogleich zu Wassertropfen wurden, welche mit der schnellen Bewegung des Fahrzeuges herunter kullerten. Raven versuchte bereits seit 10 Minuten eine vergleichbare Metapher für jenen Vorgang zu finden, doch liefen ihre Gedanken immer wieder zu anderen Begebenheiten zurück. Und Hauptbegebenheit in diesem Moment war auf dem lächerlich farbig gestaltenden Flyer verzeichnet, welcher der jungen Frau auf dem Schoß lag und von ihr nur gehässige Blicke erntete. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass ihre Großmutter wohl bereits seit 2 Minuten irgendetwas erzählte, was von Raven jedoch gekonnt ausgeblendet wurde, wie eigentlich immer, wenn sich die freundliche, doch naiv gutgläubige, ältere Dame in ihrem Redeschwall verlor. Ein Blick nach vorne zu ihren Großeltern ermöglichte ihr jedoch endlich das finden einer passenden Metapher. Der wunderschöne Single klatscht auf die Fensterscheibe, heiratet, wandelt sich um und kullert dann nur noch herab. Tatsächlich veranlasste dieser Gedanke die Schülerin zu einem leichten schmunzeln, welches jedoch sofort verblasste, als sich ihre Großmutter Cass, die äußerlich so gar nicht zu jenem familiären Begriff passte, umwand und lächelnd den Prospekt vom Schoß ihrer Enkelin nahm. „Schau mal! Die machen sogar Spaziergänge in Berggebieten und es gibt eine Bibliothek. Na Mensch das klingt doch super, das klingt doch klasse, ich mein das klingt…..“ die genervte Stimme Ravens durchschnitt das Geplapper ihrer Verwandten wie ein scharfes Messer, welches sich daraufhin sofortig in alle Heuchelei hinein schnitt und diese zerteilte. „Das klingt beschissen!“ Sie hatte genug von dem ständigen Schönreden ihrer Familie und konnte sich nicht vorstellen wie einer von ihnen einem mehrmonatigen Klinikaufenthalt abgeschottet von jeglicher Zivilisation mit Euphorie entgegensah. Zumindest ihr Großvater, auf welchen dieser Begriff äußerlich sowie emotional schon viel eher zutraf, schien sich dieser Tatsache bewusst zu sein und hielt überwiegend den Mund. Währen der langen Fahrt hatte er sich sogar seine ständigen Ausbrüche bezüglich “Idioten im Straßenverkehr“ verkniffen, wobei meist nicht einmal richtig sichtbar war, was diese nun falsches getan hatten. Früher blickten sich Raven und Cass dann immer leicht schmunzelnd an, doch zur momentanen Zeit wurde nur noch leicht verschmitzt zur baldigen Patientin geblickt, doch von dieser nichts erwidert. Während der Fahrt wurde sie das misstrauische Gefühl nicht los ihr Großvater fühle sich mit der Einweisung seiner Enkelin förmlich befreit und entlastet, doch sprach sie diesbezüglich nichts an. Die feingliederigen Hände der Frau rutschten in ihre Tasche und zogen ihr Handy heraus. Was für viele Gleichaltrige heutzutage als lebenswichtiger Bestandteil dazugehörte, war für die Bennett selbst viel eher eine Last. Sie nahm es als nervig war, wenn das Ding andauernd piepte und Telefonieren konnte sie erst recht nicht leiden, doch war das Gerät eben perfekt zur Kontaktaufnahme. Sie begaben sich immer tiefer ins Gebirge, die letzte Ortschaft lag schon lange hinter ihnen, was Raven dazu veranlasste sich zu fragen ob vor der Klinik überhaupt noch ein belebter Punkt kam und der Schnee nahm ebenso zu, wie der Empfang ihres Handys ab. Das alles gefiel ihr nicht, es fühlte sich nicht gut an zu wissen nach Verabschiedung ihrer Großeltern Kilometerweit mit Klinikpersonal und Irren festzusitzen. Bei dem Gedanken daran überkam sie eine unangenehme Gänsehaut und zur Ablenkung wandte sie sich sogleich ihrem Handy zu, auf welchem nur eine neue Nachricht verzeichnet war. Sie beinhaltete eine weitere Nachfrage eines Klassenkameraden, wann sie wiederkäme. Ein schmerzliches Gefühl machte sich in ihrer Brust breit, bei dem Gedanken an all die Dinge, welche sie zurückließ, ganz vorne dabei Schule und Freunde. Einen kurzen Moment hatten sich ihre Finger auf den Tasten befunden, doch dann verwarf sie den Gedanken und ohne Rückantwort wurde zurück auf das Menü geklickt und ihr Handy unachtsam in die Tasche geworfen. Die Straßen wurden immer enger, der Wald herum immer dichter und die Berge schienen immer näher zu kommen. Es war als fühle Raven die baldige Ankunft und es war keineswegs ein gutes Gefühl, gar als wolle sie etwas davon abhalten.Als sich die Autotüren mit lautem Knall schlossen und sich der Blick der jungen Frau in Richtung des großen, aufragenden Gebäudes richtete, glaubte Raven sie sähe nicht mehr korrekt. Die sichtbar alte, graue Einrichtung, liegend im Waldgebiet und verziert von einem Schneeteppich auf dem Dach hatte so gar keine Ähnlichkeit mit der scheinbar bearbeiteten und im Hochsommer fotografierten Version auf der Vorderseite des Prospektes. Und sie war sich sicher, dieser Anschein wurde nicht nur durch die Bedingungen der Jahreszeiten ausgelöst. Die langgezogene Villa hätte aus einem Horrorfilm stammen können, in Kombination mit dem grauen Himmel und den kahlen, von Blättern befreiten Bäumen davor. Das in schwarzen Humor getränkte „Was will ich noch einmal hier?“ wurde von ihrer Großmutter mit einem aus Ravens Sicht lächerlich tadelnden Blick abgetan, doch selbst die sonst so zuversichtlich drein schauende Dame schien von dem Gebäude leicht abgestoßen. Es war nicht einmal das Antlitz, sondern viel eher der gesamte Eindruck, welches es zusammen mit der farblosen Umgebung bot. Lediglich die Aussicht auf das umliegende Gebirge war trotz grauem Himmel schier atemberaubend, auch wenn sich die Schülerin jenen Gedanken keineswegs anmerken ließ. Sie fühlte sich unwohl und dieser Eindruck wurde noch einmal verstärkt als die Drei über den Vorplatz in Richtung Eingangstür liefen. Auf diesem hatten sich zahlreiche, pechschwarze Krähen niedergelassen, deren laute Schreie ihr förmlich im Kopf schallten. Sie hasste Krähen, ja eigentlich hasste sie Vögel allgemein. Raven war neidisch auf sie, auf die Fähigkeit bei Gefahr einfach wegfliegen zu können und nie wieder zurück zu blicken. Letzteres etwas, was dem ach so perfektionierten Menschen fehlte wie sie fand. Als sie 8 Jahre alt war besaß sie kurzzeitig einen bereits alten Wellensittich, welchen ihre Mutter von einer weggezogenen Freundin erhalten hatte. Es war von dem Mädchen immer geplant gewesen dem Tier das fliegen und sprechen beizubringen, doch so sehr sie sich auch bemühte, es wollte nicht funktionieren. Und eines Tages kam sie nach Hause und der Vogel lag einfach tot in seinem Käfig, regungslos und ohne Verabschiedung, als hätte man ihn eingefroren. Raven hatte keine Träne um den Vogel vergossen, sie konnte nicht, wusste bis heute nicht weshalb. Manchmal gab es Momente in denen man sauer auf sich selbst war, weil keine Träne über die Wange rollte. Und manchmal eben nicht.
Nach Eintritt von Raven und ihrer Familie, wurden sie im Eingangsbereich, ausgestattet mit altmodischen Möbeln, von einer jungen Blondine mit freundlichem Lächeln empfangen, welches der Patientin jedoch keineswegs ihr Misstrauen nahm. Hatte sie eines gelernt, dann das lächelnde Menschen oft die größten Geheimnisse verbargen. Die Dame stellte sich selbst als Schwester Victoria vor, ein Name welcher wie Raven fand mit seiner Ernsthaftigkeit so gar nicht zum freundschaftlichen Erscheinungsbild der Blondine passte, welche die Dreiergruppe auch sogleich herum führte, respektvoll darauf bedacht aufgrund des Großvaters, welcher sichtbare Probleme mit den Beinen hatte, keinen zu schnellen Gang einzulegen. Die Klinik machte im Inneren einen deutlich empfänglicheren Eindruck, wirkte aufgrund von Möbeln und fehlender Modernität trotzdem alt und wie Raven fand viel eher wie ein Seniorenheim oder Kurort. Bei psychiatrischen Einrichtungen dachte man immerhin an weiße Flure, verriegelte Türen und einen Empfangsschalter, davon hier scheinbar nichts vertreten. Durchaus vorhanden waren jedoch die zahlreichen Reglungen, bei dessen Aufzählungen sich die junge Frau am liebsten übergeben hätte. Sie würde in einigen Monaten 18 werden und diese Leute schrieben ihr vor, wann sie im Bett zu liegen hatte. Damit nicht genug, natürlich gab es auch feste Essenszeiten, ein Verbot das Gelände ohne Zustimmung zu verlassen – so viel zu den Spaziergängen im Schnee – und ein striktes Handyverbot, von Geräten wie Computern musste gar nicht erst gesprochen werden. Letzteres diente wie Victoria noch einmal erklärte zur Verhinderung der Kontaktaufnahme, welche die Genesung der jungen Erwachsenen behindern könnte und während sich die Schwester und Großmutter Cass in einem Gespräch über schlichtweg nicht vorhandene Besuchszeiten verfingen, wanderte Ravens Blick durch die Eingangshalle. Auf einem dort vorhandenen, altmodischen Sofa saßen zwei Mädchen, vermutlich beide im Alter von circa 17 Jahren. Die eine schenkte der neuen Patientin ein leichtes Lächeln, welches von dieser jedoch schlichtweg ignoriert wurde. Stadtdessen richtete sich ihr Blick auf die Arme der anderen, auf welchen man selbst aus Entfernung die tiefen Schnitte und dunklen Narben erkennen konnte. Ein leichter Anflug von Übelkeit kam ihr bei dem Gedanken an die Tatsache hoch, dass sie selbst solche Narben besaß, sich diese jedoch keineswegs selbst zugefügt hatte und ihren Körper nie freiwillig so verschandelt hätte. Doch war es ja eh eine Frage der Perspektive inwieweit man bei selbstzugefügten Verletzungen aufgrund einer Krankheit noch von freiwillig sprechen konnte. Die Schülerin wurde von der Stimme ihrer blonden Gegenüber aus den Gedanken gerissen, welche mit sanftem Lächeln die Abgabe ihres Handys verlangte, welches daraufhin etwas ruppig übergeben wurde. Und da schwand sie, jene letzte Möglichkeit zur Kontaktaufnahme. Die Schwester verließ die Familie um ihnen noch die letzten privaten Momente für den Abschied zu schenken. Raven sah ihre Großmutter noch einmal ausführlich an, erwartete vermutlich von dieser einen plötzlichen Abbruch des Unterfangens. Doch stadtdessen kam dieser nur ein „Ich werde dich vermissen Schatz. Du machst das“ über die Lippen, gefolgt von einem Versuch der Umarmung, welcher von Raven jedoch wortlos abgeblockt wurde. Außer einem kühlen „Machts gut“ bekam diese nichts heraus. Schnurstraks ergriff sie ihren Koffer und lief los, drehte sich noch einmal zu einer kurzen Handerhebung zum Abschied um und ließ ihre Großeltern dann hinter sich. Sie konnte förmlich spüren, wie Cass Tränen übers Gesicht liefen, doch brachte sie das nicht von dem sturen Unterfangen ab die zwei Leute, welche sie hierher gebracht hatten keines Blickes mehr zu würdigen. Da die Formulare bereits unterschrieben waren und das erste Therapiegespräch erst am nächsten Morgen stattfinden würde wie Schwester Victoria erklärte, blieb Raven der restliche Abend um sich einzurichten und Bekanntschaften zu knüpfen. Letzteres übte die junge Frau jedoch aus indem sie sich in ihrem Zimmer verschanzte und stumm aus dem Fenster blickte. Für einen Moment hätte sie wetten können noch die Scheinwerfer vom Auto ihrer Großeltern zu erblicken, doch selbst diese erloschen in der herannahenden Dunkelheit.
Am nächsten Morgen hatte sich Raven bereits früh in den Essensraum begeben, von dessen Einrichtung sich die Schulcafeteria ihrer Meinung nach deutlich etwas abschneiden sollte, doch von Hunger konnte die mal wieder von einem Alptraum aus dem Schlaf gerissene Patientin nur träumen. Auf ihrem Teller hatte es sich ein halb aufgegessenes, belegtes Brötchen bequem gemacht, bei dessen Anblick sie sich sogleich nach einer Schale Cornflakes sehnte und der Löffel wurde bereits seit 2 Minuten unaufhörlich im Kakao herum gedreht. Der Essensraum füllte sich nur allmählich, überwiegend mit Jungs, da diese bekanntlich morgens weniger Zeit brauchten. Im St. Damian Hospital waren verhältnismäßig wenige Patienten untergebracht, was man bei der großen Erscheinung des Gebäudes kaum vermutet hätte, so wenige, dass es auffiel, wenn jemand neues kam, vor allem wenn dieser Neuling mit bunt gefärbten Haaren und düsteren Klamotten herum lief, doch trotzdem genug Patienten, dass deren Gespräche im Hintergrund in Raven ein mulmiges Gefühl verursachten. Immer wieder konnte sie von der Seite wahrnehmen wie einer seinen Kopf neugierig in ihre Richtung drehte. An den Tischen bildeten sich Gruppen, manch eine erschien völlig stumm, die andere verlor sich in Gesprächen, doch ganz anders als in der Schulcafeteria nie zu laut, ja beinahe auf einen leisen Tonfall bedacht. Es traten mehr und mehr einzelne Leute herein, doch verständlicherweise traute sich keiner an den sonst leeren Tisch mit dem Neuling, auch wenn es kurzzeitig so erschien als würde ein zierliches, quirlig erscheinendes Mädchen eben das in Angriff nehmen, ehe sie von einem ebenso jung erscheinenden Rotschopf weggezogen wurde. Es gefiel der Bennett ganz und gar nicht Objekt der Betrachtung anderer zu sein, zwar brachte sie eine gehörige Portion an Selbstbewusstsein mit, welche schnell mit Arroganz verwechselt werden konnte, doch fühlte man sich als Neuling in einer Gruppe doch immer wie eine Dartscheibe, welche nur zur Aufnahme der Pfeile vorhanden war. Raven vertrat ganz klar die Meinung sie sei nicht hier um Freunde zu finden, doch war sie ebenso uninteressiert an der Schließung von Feindschaften, vor allem weil der Gedanke von einem dieser Patienten nachts mit einem Kissen erstickt zu werden nicht gerade traumhaft war. Eben in jenem Moment viel ihr Blick auf einen gefährlich herannahenden, tatsächlich weißhaarigen Kerl, der sich mit breitem Grinsen seinen Weg zu ihrem Tisch bahnte, nur um sich daraufhin völlig schamlos zu ihr zu setzen und seine Worte ohne Zöger an sie zu richten. „Hey Süße. Ich bin Gerome. Gerome Whelan“. Anhand seiner Positionierung auf dem Stuhl schlussfolgerte Raven, dass der junge Mann plante es sich hier bequem zu machen. „Raven Bennett. Was willst du?“ wurde daher nur kühl und absichtlich knapp erwidert, was ihren Gegenüber jedoch keineswegs einzuschüchtern schien. Scheinbar gehörte er nicht zur Sorte, die schnell nachließ. „Du heißt ernsthaft Raven? Wie cool ist das denn. Wieso bist du hier?“ Mit solch einer direkten, privaten Fragestellung hatte sie nicht gerechnet, vor allem da sie so gar nicht zur zuvor von ihm belachten Nachfrage passte. Für einen kurzen Moment dachte die junge Frau darüber nach ihrem unwillkommenem Gesprächspartner mit einer vor schwarzem Humor nur so triefenden Antwort zu kommen, doch beschloss sie einfach gar nichts zu sagen, in der Hoffnung er würde sich daraufhin verziehen. Doch Gerome dachte nicht daran und sein breites Grinsen wandelte sich in ein süffisantes Schmunzeln um. Die darauf folgenden Worte ließen sie jedoch hellhörig werden. „Oh du redest nicht gerne über dich was? Keine schlechte Eigenschaft hier drin. Wenn ich dir einen Tipp geben darf, halt am besten penetrant die Klappe. Hier ist so einiges anders.“ Daraufhin erntete er von ihr einen fraglichen Blick, doch noch ehe sie etwas sagen konnte, erhob der Kerl erneut das Wort. „In dem Punkt kannst du mir glauben. Ich war schon so oft in Behandlung.“ Zumindest was letzteres anging glaubte Raven ihm vollkommen, machte er sich doch tatsächlich daran an den Fingern seine Aufenthalte in verschiedenen Kliniken abzuzählen, auch wenn ihr klar war, dass er damit nur scherzen wollte. Scheinbar war sie unter allen hier sitzenden Patienten an den größten Spinner und Möchtegern Witzbold überhaupt geraten. Glücklicherweise wurde dessen Show kurzerhand von Schwester Victoria unterbrochen, welche Raven knapp zu ihrer ersten Therapiestunde mit dem zugeteilten Psychiater rief. Und als hätte die neue Bekanntschaft nur darauf gewartet, redete er nach Abgang der Schwester sogleich wieder los, lies sich auch von Ravens genervtem Blick nicht abhalten. „Oh Dr. Crane was? Viel Spaß Süße. Korridor rechts, unterste Etage, erste Tür.“ Sogleich erhob sich die sichtbar unzufriedene Neue und machte sich daran den Raum zu verlassen. „Jaja ich weiß. Tschau Gerome.“ Das von ihm mit charmantem Lächeln unterstrichene „Meine Freunde nennen mich übrigens G“, wurde von der Schülerin nur mit einem unnahbaren „Da bin ich mir sicher“ erwidert.