02 - Schwarze Scherben
Kurz nachdem die junge Frau den Essensraum verließ zog sich ein amüsiertes Grinsen auf Geromes Gesicht. Da hatten sie aber eine interessante, neue Patientin bekommen. Ihm gefiel ihr Misstrauen, eine Eigenschaft die hier keineswegs fehl am Platz war. Seine zuvor ausgesprochenen, warnenden Worte waren ernst gemeint. Diese Klinik war anders als alles was er zuvor kennen gelernt hatte. Die von Raven mit sich genommene, penetrante Angst, für Gerome vergleichbar mit der eines traumatisierten Straßenhundes, würde sie eventuell dazu veranlassen genauer auf Details zu achten. Manchmal steckten Antworten schon hinter irrelevant erscheinenden Aussagen. Und mal ganz abgesehen davon war sie hübsch, wenn auch nicht sein Typ. Er machte sich die Dinge gerne leicht und dementsprechend gehörten die schüchternen Mädchen, deren Selbstbewusstsein einem Trümmerhaufen glich zu seinem Beuteschema. Man konnte mit ihnen spielen wie mit Puppen, sie an und ausziehen, ihnen ein Lächeln oder einen traurigen Mund aufmalen und letztendlich, wenn man ein neues Spielzeug gefunden hatte, zurück in die staubige Kiste werfen. Letzteres machte ihm angemerkt besonders viel Spaß. Zwar waren mit seinen Spielereien keine besonders großen, emotionalen Zustände verbunden, doch explodierten in seinem Inneren die Gefühle, wenn er eines seiner Spiele erfolgreich abschloss. Sein Blick viel auf ein beschmiertes, nur halb gegessenes Brötchen auf dem zurückgelassenen Teller des Neulings. Ohne Zögern nahm er es sich und biss herzhaft hinein. In jenem Moment trat eine weitere, ihm genauer bekannte Person durch die Tür in den altmodisch eingerichteten Essensraum. Die zerzausten, schwarzen Haare, das Brillengestell auf der Nase und gekleidet in einen, für Gerome lächerlichen, roten Hoodie mit Aufdruck irgendeines Videospiellogos, dies alles entpuppte den dazu gestoßenen augenblicklich als Samuel Grey, von einem Großteil seiner Mitpatienten schlicht Sam genannt. Dieser wurde lediglich von drei Personen knapp begrüßt ehe er weiterhin still und in zurückgezogener Haltung den Tisch mit dem strahlend weißen Geschirr ansteuerte. Während er zügig an Geromes Tisch vorbeilief rutschte sein Blick doch auf den weißhaarigen und musterte ihn wie eine Gazelle, welche befürchtete gleich vom entdeckten Löwen angesprungen zu werden. Doch jener Löwe lächelte nur charmant ehe er sich wieder dem Brötchen widmete und an das Stöhnen der kleinen, blonden Patientin dachte, wobei ihm einfiel, dass er sich ja auch Ravens Kakao greifen konnte. Nach ihrem ersten Gespräch würde sie diesen sicher nicht mehr haben wollen.Das St. Damian Hospital war aufgeteilt in grob gesehen drei Abteilungen. Der Eingangsbereich, groß und ausgestattet mit einem Kronleuchter sowie alten Möbelstücken und einer Treppe auf je einer Seite, welche zum oberen Geschoss führte. Ebenso vorhanden war hier auch eine Art kleines Schwesternzimmer, für die Patienten strikt verschlossen. Dann gab es noch einen rechten und einen linken Seitentrakt. Zwar befanden sich auf dem rechten die Jungen und auf dem linken die Mädchenzimmer, doch waren die an die Eingangshalle angrenzenden Trakte für alle Patienten frei zugänglich. Dies lag schon allein an der Tatsache, dass sich am Anfang des Mädchentraktes in der unteren Etage Speisesaal und Aufenthaltsraum befanden und ebenso bei den Jungen die Gesprächsräume der Psychiater. Die Einrichtung besaß insgesamt drei Ärzte, wobei sich Raven erinnern konnte gelesen zu haben, dass es früher vier gewesen sein sollen, doch die Erinnerung hatte sich als unwichtiges Bruchteil in das hinterste ihres durchaus guten Gedächtnisses verschoben. Die Augen der jungen Frau befanden sich bereits auf dem an die Wand genagelten, bronzenen Namensschild auf welchem der Name ihres zugeteilten Arztes verzeichnet war. Wenn sie ehrlich sein sollte bereitete ihr das Wissen, welche Macht Psychiater im Grunde über die ihnen zugeteilten Patienten besaßen ein durchaus mulmiges Gefühl, auch wenn sie letzteres nie zugeben würde. Als sich ihre Hand auf die kalte Klinke legte wäre sie am liebsten umgekehrt. Doch gab es nur eine Möglichkeit für sie hier möglichst bald wieder heraus zu kommen und das war der Gang durch diese Tür. Ganz abgesehen davon, wer wusste welche Strafen die Patienten hier erhielten, wenn sie nicht zu den festgelegten Therapiesitzungen erschienen. Die Bennett hatte nun wirklich keine Lust eher ins Bett zu müssen als der Rest, die fest geregelten Schlafenszeiten hier waren für sie schon schlimm genug. Und so wurde die Klinke hinunter gedrückt und sie trat langsam in den Raum.
Erst als die Tür hinter ihr, angetrieben durch den starken Wind, welcher durch die geöffneten Fenster in den Raum strömte und eine kalte Briese hinterließ, laut zuknallte, wurde Raven bewusst, dass sie gar nicht angeklopft hatte. Was für andere eine peinliche Außerachtlassung von Höflichkeit gewesen wäre hinterließ keinerlei Abdruck im Inneren der Schülerin, welche sogleich darauf selbstbewusst, doch langsam in das Zimmer eintrat, letzteres ebenso altmodisch eingerichtet wie der Rest jener Einrichtung, doch selbstverständlich ausgestattet mit neumodischen Gerätschaften, welche doch fehl am Platz wirkten, insbesondere der schwarze, teuer aussehende Laptop, welcher auf dem Schreibtisch stand. Hinter diesem befand sich ein großer, lederner Sessel in welchem Dr. Nathan Crane saß und die bereits erwartete Besucherin anblickte. Seine Gestalt löste in ihrem Inneren irgendetwas aus, keine Gefühlsregung, welche sie hätte zuordnen können, viel eher wie eine sanfte Erinnerung, die sich nicht in Bildern darstellen ließ und sich nicht in ihr Inneres vorzukämpfen schien, sich jedoch nicht schlimm anfühlte. Der im Sessel sitzende Mann, ruhig und abwartend, war ohne Übertreibung als gutaussehend zu beschreiben. Er wirkte gepflegt, wie auch seine scheinbar teuren Klamotten, die braunen Haare ordentlich frisiert und die Brille gab ihm das Intellektuelle, welches man von einem Psychiater erwartete. Auf seinen Lippen hatte sich ein keineswegs übertriebenes oder als aufgezwungen empfundenes Lächeln breitgemacht. Seine ganze Gestalt schien einen förmlich in den gegenüber liegenden Sessel, ebenfalls aus Leder, doch nicht so groß und kostbar erscheinend, hinein zu ziehen, doch irgendetwas in Ravens Inneren wehrte sich. Es schien nicht direkt an dem Mann zu liegen, sondern viel mehr an diesem Ort. Sie fühlte sich beklemmt und unwohl. Als solle sie hier nicht sein. Doch allem Anschein nach zögerte sie ihrem Gegenüber doch zu lange, denn noch während ihre Augen voller Misstrauen durch den Raum schweiften erhob der junge Arzt das Wort und der Frau wurde noch unwohler als sie seine von so viel Selbstsicherheit, Höflichkeit und dem versteckten Laut der Überlegenheit nur so strotzende Stimme vernahm. „Hallo Raven. Wie du sicherlich schon weißt bin ich Dr. Crane, dein zugeteilter Psychiater. Bitte nimm doch Platz.“ Es verwunderte sie schon fast, dass er kein Wort über das fehlende Klopfen verlor und sich ebenso nicht aus seinem Sessel erhob um ihr die Hand zu reichen. Aus irgendeinem Grund machte ihn das ein Stückchen weit sympathischer. Es hinterließ bei Raven das Gefühl er sei ebenso eine Person, welche sich trotz des seriösen Erscheinungsbildes nicht allzu viel aus einengenden, gesellschaftlichen Normen machte. Zwar schwächte dies ihr Misstrauen ihm gegenüber keineswegs ab, doch machte es die Aussicht dieses Gespräches fast erträglicher. Trotzdem kam von ihr nichts weiter als ein unnahbar klingendes und knappes „Hi“, wobei der Mann keineswegs von ihrer Art und der scheinbar mangelnden Gesprächsfreude überrascht zu sein schien. Als nächstes folgte zu ihrer Verwunderung auch keine Frage nach den herführenden Beschwerden, welche Therapeuten sonst zu Anfang des ersten Gespräches immer stellten, als wüssten sie diese nicht bereits und ebenso wenig die Aufzählung simpler, irrelevanter Begebenheiten, welche einen dazu veranlassten daran zu glauben, dass das eigentliche Gespräch erst 10 Jahre später beginnen würde. „Nun wie hast du deine erste Nacht hier geschlafen?“
Für einen Moment lang wog Raven innerlich ab, wie viel ihrer nächtlichen Beschwerden sie ihm Preis geben wollte, doch eigentlich stand das alles so oder so in ihrer Akte, hatte man der zuvor behandelnden Therapeutin doch eine Schweigepflichtsentbindung erteilt, welche es ihr gestattete Informationen, Diagnosen und Therapieergebnisse weiterzugeben. „Scheiße…. Wie fast immer. Ich konnte nur schwer einschlafen, bin häufig aufgewacht und hatte Alpträume.“ Ihre Erzählung klang fast wie eine abgeleierte Tonbandaufnahme, so häufig hatte sie jene Worte schon gesprochen. Und dies waren nur die simpelsten Probleme. Während ihrer Erzählung nickte Dr. Crane einmal verständnisvoll und musterte seine Gegenüber eindringlich, doch nicht so lange, dass sie das Gefühl bekommen könnte von ihm beobachtet oder durchschaut zu werden. „Verstehe. Klingt wie eine stressige Nacht.“ Darauf folgte nur ein knappes Nicken ihrerseits.„Könntest du mir den Inhalt von einem dieser Träume wiedergeben?“ Während des begrenzten, nächtlichen Schlafes schwirrten zahlreiche Bilder und Geschichten durch den Kopf der Schülerin. Allesamt skurril, wirr, grausam und keinerlei Struktur ergebend. Lediglich dieser eine Traum tauchte, wenn auch häufig etwas umgewandelt immer und immer wieder auf. Wie ein teils beschädigter Film, von welchem Szenen zu fehlen schienen, insbesondere das Ende, welcher fast jede Nacht in ihrem Kopf abgespielt wurde. „Der schlimmste ist weniger ein Traum viel mehr eine Erinnerung. Und sie macht mich ganz krank.“ Ihre direkten, doch ehrlichen Worte klangen zwar hasserfüllt und stur, doch konnte Dr. Crane ebenso das Leid dahinter hinaus hören, auch wenn es der jungen Frau vielleicht nicht bewusst war. „Fühlst du dich im Stande mir davon zu erzählen?“ Ihr Blick traf seinen und Raven schien sich Gedanken darüber zu machen, welcher Therapiestruktur er folgte. Sie sagte kein Wort und spielte als würde sie sich die Antwort noch genau durch den Kopf gehen lassen, doch hatte ihr Gegenüber schon innerhalb kürzester Zeit bemerkt, dass sie nicht zu den Patienten gehörte, welche ihm sofortig auf Nachfrage ihre Geheimnisse und Bilder im Kopf verraten. Dementsprechend ging er für den Moment noch von einem Nein aus und erhob das Wort mit ruhiger, doch eindrücklicher Stimme. „Raven du weißt mit Sicherheit weshalb du hier bist.“ Am liebsten hätte die neue Patientin ihre Augen verdreht. Sie konnte sich schon denken was jetzt kam. Eine langweilige Ausführung weshalb es nichts brachte, wenn sie ihm sämtliches verschwieg und hier nur rumsaß. Doch scheinbar war es kein leichtes diesen Mann einzuschätzen. „Du bist hier wegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Natürlich sind dir Symptome und Bedeutung der Krankheit bekannt, doch lass mich dir das etwas bildlicher erklären.“ Sie erhob nur fragend eine Augenbraue und entgegnete „Denken sie ich hätte nicht verstanden was mit mir los ist?“ Dies wurde von ihm nur mit einer durch und durch ehrlich erscheinenden Verneinung beantwortet. „Damit wir dir helfen können müssen wir die genaue Ursache, welche sich wahrscheinlich ins Innerste deiner Gedankengänge zurückgezogen hat ausfindig machen. Und entweder konfrontierst du dich dann mit dem Problem oder wir setzten daran es weiter in die Vergessenheit zu schieben und somit unschädlich zu machen. Es….“ Erneut wurde der Arzt von seiner Patientin unterbrochen, welche dies alles schon in abgewandelter Version gehört hatte. „…. hat alles Vor und Nachteile. Ich weiß.“ Er beschwerte sich nicht über ihre große Klappe, sondern schmunzelte viel eher keineswegs überrascht, ehe das Wort wieder von ihm ergriffen wurde. „Die Ursache einer PTBS liegt im Grunde in einem Bild, so schrecklich und traumatisierend, dass es für eine normale, menschliche Psyche nicht zu verstehen ist. Weder Kampf noch Flucht ist möglich und so muss sie es ertragen.“ Tatsächlich schien die Bennett nun das Interesse an seinen Worten gefunden zu haben. „Das Bild wird fallen gelassen und zersplittert in viele Scherben die sich in das Innerste deines Kopfes einschneiden. Und ab und an schneidest du dich eben daran, nur das die Schnitte dieser Scherben viel tiefer sowie schmerzhafter sind und ebenso häufiger vorkommen als normale Schnitte.“ Raven nickte stumm. Sie konnte sich mit dieser bildlichen Erklärung voll und ganz identifizieren. Und aus einem ihr unbekannten Grund machte dieses scheinbar intensivere Wissen über ihre Probleme Dr. Crane vertrauensvoller. Eine Weile herrschte Stille im Raum und der Arzt wollte scheinbar schon fast wieder etwas sagen, da erhob sie das Wort und sprach folgendes mit gespielter Leichtigkeit aus, was ihr merklich schwerfiel, scheinbar um die damit verbundene Anspannung zu überdecken. „Es ist immer er. Der schwarze Mann.“